Gemeinde vs. christliche Dienstleistungsorganisation

Jede Gemeinde hat bereits eine vorgegebene Vision

Die meisten Gemeinden beschreiben ihre Vision, Mission und Werte auf ihren Homepages und Gemeindeblättern. Es stimmt, dass dort, wo keine Vision vorhanden ist, die Leute sich eine andere Gemeinschaft suchen. Doch die Frage ist, was unter dem Begriff Vision verstanden wird? Vielen ist nicht klar, dass man sich damit der Terminologie des Qualitätsmanagements bedient. Die VDI-Ausgabe definiert die Begriffe Vision und Mission so, wie sie von vielen Pastoren leicht auf ihre Ortsgemeinde übertragen worden sind [VDI/DGQ 5502 (2001), p. 2]:

Vision: "Vorstellung, wie sich die Gemeinde in der Zukunft selbst sieht und gesehen werden will. Die Vision enthält Aussagen zu angestrebten Leistungen, Interaktionen mit der Umwelt sowie zu Identifikation und Motivation der Mitarbeiter."
Mission: "Selbstverständnis und ggf. gesellschaftlicher Auftrag der Gemeinde. Sie vermittelt eine Grundorientierung für alles Handeln."

Diese Begriffsdefinitionen sind zunächst einmal nicht schlecht. Doch wenn von angestrebten Leistungen die Rede ist, steckt häufig dahinter, aus einer Gemeinde eine christliche Dienstleistungsorganisation zu machen, die zeitgemäße Programme für jede Altersgruppe mit messbarem Erfolg, wie z.B. steigenden Teilnehmerzahlen entwickelt. Eine christliche Dienstleistungsorganisation ist sicher eine gute Einrichtung, doch ist sie die primäre Berufung einer Gemeinde?  
In den Nuggets „Die mündige Gemeinde“ wird gezeigt, dass die Identität der Gemeinde darin liegt, „Familie Gottes“ zu sein. Damit ist ihre Vision bereits nach Eph 4,11-13 vorgegeben, nämlich Christus in Seinen Fußstapfen zu folgen, bis hin zur Ähnlichkeit mit Ihm und Seinem Auftrag in dieser Welt.

In der Bibel tritt der Begriff „Vision“ übrigens nur im Zusammenhang mit geistlichen Erscheinungen auf (Leiter: 1Mo 28,10-22; El-Bethel-El: 1Mo 35:7; Brennender Busch: 2Mo 3,2; Gebeine: Hes 37,1-4; Cherubim: Eze 41,18-20,25; Mazedonien: Apg 16,9; Älteste: Offb 4,4.10; 5,5; 6,8; und viele andere). Doch bei zahlreichen Leitern wie Mose, David, Salomo, Nehemiah und anderen Personen lassen sich Ansätze einer Vision im obigen Sinne des Qualitätsmanagements erkennen, mit denen diese geistlichen Führer Gottes Volk führten. Mose hatte zum Beispiel einen derart starken Glauben, als „sähe er den Unsichtbaren“ (Heb 11,27). Und es war König Salomo, der den berühmten Ausspruch machte: „Ohne Vision verwildert ein Volk“ (Spr 29,18a). Da es sich hierbei aber um alttestamentliche Beispiele handelt, lassen sie sich nicht ohne weiteres auf die neutestamentliche Gemeinde, wohl aber auf eine christliche Dienstleistungsorganisation übertragen. Hier verwischen in der Praxis häufig die Grenzen, doch eine  Differenzierung zwischen Gemeinde und Dienstleistungsorganisation ist dringend geboten und der Kern der Gemeindeberatung von "Quality for Eternity".

 

Eine christliche Organisation ist keine Kirche, doch sie muss nicht vor Qualitätsmanagement-Methoden zurückschrecken

Eine christliche Organisation ist keine Kirche, kann diese aber sehr wohl ergänzen. Fühlt eine christliche Gemeinschaft einen gemeinsamen Auftrag, der sie verbindet, so kann es hilfreich sein, zu diesem Zweck eine Organisation zu gründen, die sie in der Ausübung ihrer christlichen Mission unterstützt. Wenn es einer oder mehreren Gemeinden gelingt, hinsichtlich der fünf Kriterien Zielgruppenorientierung, Führungsverhalten, Strategie, Prozessorientierung und kontinuierlicher Verbesserung Konsens zu erlangen, ist die Anwendung des Total Quality Management (TQM) Ansatzes möglich. Dabei fördert die fünffältige Ausrichtung einer TQM-Organisation folgende Qualitätsmerkmale:

  1. Kundenbegeisterung – die Liebe der Mitarbeiter begeistert ihre Zielgruppe;
  2. Vorbildfunktion der Leiter – die Leiter sind echte Vorbilder des christlichen Glaubens, die nicht nur verwalten, sondern führen und leiten;
  3. Missionsgebundene Strategie – die Vision, Mission und Werte, die sich an dem biblischen Missionsauftrag orientieren, ermutigen gleichzeitig den Einzelnen in seiner persönlichen Glaubensbeziehung;
  4. Hohe Prozessperformance – die Abläufe werden nicht durch ein Abteilungsdenken gebremst, sondern sind effektiv, was sich auch durch gute Kennzahlen ausdrücken lässt. Allerdings sind nicht immer alle wertorientierten und geistlichen Ziele messbar.
  5. Sichtbare Verbesserungen – die Resultate der Organisation werden als Erfolg aller Prozessbeteiligten gefeiert, doch die Glaubensentwicklung des Einzelnen ist seine persönliche Angelegenheit, die er selbst vor Gott reflektieren und bewerten muss.

Der Nutzen des Prozessmanagements

Obwohl „Qualität for Eternity“ nicht eingefordert oder in christlichen Organisationen durch kirchliche Programme produziert werden kann, ist entscheidend, dass gut geplante, strukturierte und geregelte Abläufe die Entwicklung dieser Art von Qualität fördern können. Die hierzu erforderlichen Prozesse können entwickelt, umgesetzt, stabilisiert und geregelt werden, so dass sie im Laufe der Zeit einen gewissen Reifegrad erfüllen. Dass sich das in der Wirtschaft etablierte Prozessmanagement – ein Beispiel ist das Prozessmodell der ISO 9001:2008 mit seinen acht Qualitätsprinzipien –  auch auf Prozesse in christlichen Organisationen übertragen lässt, geht aus einer detaillierten Analyse der einzelnen Prozessphasen hervor. Dabei wird zum Beispiel eine Dienstleistungsorganisation zu einer kontinuierlichen Verbesserung aller festgelegten Prozesse herausgefordert. Voraussetzung ist dabei auch eine Fehlerkultur, die die konsequente Adressierung operativer und systemischer Fehler überhaupt erlaubt, wie dies zum Beispiel durch eine „Why-Why-Analyse“ geschehen kann. Die Ermittlung der Grundursachen von Problemen darf nicht als Kritik empfunden wird, sondern muss als Chance zur Optimierung bestehender Abläufe und Rahmenbedingungen für ein nachhaltiges Wachstum willkommen sein. Großartige Einzelleistungen spielen dabei ebenso wie die operativen Fehler einzelner Mitarbeiter nur eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist, dass die Prozesse so stabil laufen, dass individuelle Schwankungen von ihnen aufgefangen werden und der einzelne Mitarbeiter weder bloß gestellt wird noch übermäßige Ehre empfängt.

Selbstbewertungen zulassen

Es gibt heute kaum ein Unternehmen, das nicht gemäß einer Qualitätsnorm zertifiziert ist. Doch für eine christliche Organisation liegt in der Selbstbewertung der eigenen Tätigkeit ein großer Vorteil gegenüber einer externen Prüfung. Ausgehend von der biblischen Ermutigung, seinen Glauben und seine Arbeit ständig selbst zu überprüfen (1 Cor 11:28; 2 Cor 13:5), können die Ergebnisse der Selbstbewertung und die abgeleiteten Verbesserungspotenziale glaubhafter auf die gesamte Organisation übertragen werden. Während es hierzu zahlreiche Checklisten und eine unübersehbare Anzahl an Fragebögen gibt, ist ein einheitliches Bewertungsschema, wie zum Beispiel das der RADAR-Matrix des EFQM-Models der European Foundation of Quality Management von Vorteil, da es die Anwendung von gleichen Bewertungskriterien ermöglicht und so den (freiwilligen) Austausch unter Organisationen erleichtert. Obwohl das Tool der Selbstbewertung und das Benchmarking unter christlichen Organisationen noch als gewöhnungsbedürftig empfunden wird, geht es natürlich nicht darum, Sieger und Verlierer zu ermitteln, sondern den Prozess des kontinuierlichen technischen und systemischen, geistlichen Wachstums zu fördern.

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