2. Gemeindekultur verstehen und ausbalancieren

Gemeindeberater stellen fest, dass die wirklichen Unterschiede zwischen „besseren" und "schlechteren" Gemeinden in ihrer Kultur zu suchen sind und nicht in der Ausstattung der Räume, der zur Verfügung stehenden technischen Ausrüstung, der Qualifikation ihrer Mitarbeiter oder Programmangebote [1]. Dies ist auch meine Beobachtung von Gemeinden in den letzten 30 Jahren. Überall auf der Welt scheint die Kultur der bedeutsamste Faktor einer Gemeinde zu sein [2], wobei darunter nicht die Landeskultur zu verstehen ist, sondern die Gemeindekultur. Dass sich diese aber enorm verändern kann, wenn immer mehr ziel- und erfolgsorientierte Programme den Gemeindealltag bestimmen, ist eine oft übersehene Realität. Aus einer familiären Gemeinde mit einer Familienkultur kann eine leistungsorientierte Gemeinde werden mit einer Marktkultur. Genau genommen kann man zwischen vier Kulturarten unterscheiden, die ich in diesen Nuggets kurz beschreiben möchte. Das Ziel könnte sein, eine ausgewogene Kultur zu verfolgen, innerhalb derer ein gesundes Wachstum der Gemeinde möglich ist.

 

Die Marktkultur

Die primäre Charakteristik einer Marktkultur liegt darin, dass die Organisation ergebnisorientiert arbeitet. Das wichtigste dabei ist, dass die Mitglieder ihre Dienste zuverlässig ausführen. Sie sind beides, missionsorientiert und zielorientiert. Die Leiter erwarten, dass für Gott nur das Beste gegeben wird, eben exzellente Performance. Der Klebstoff, der die Mannschaft zusammenhält, ist die Betonung des Erfolges der Mission. Längerfristig muss sich dies dadurch äußern, dass Ziele nachweisbar erreicht wurden. Erfolg bedeutet, dass die Gesellschaft mit ansprechenden Programmen erreicht wurde, was durch entsprechende Teilnehmerzahlen nachgewiesen werden kann. Dies wiederum führt zu noch größerer Motivation, das nächst höhere Ziel im Folgejahr zu erreichen.

 

Die Auswirkung dieser Kultur, wenn sie eine Gemeinde völlig erfasst, ist gravierend. Die meisten Gemeinden stellen sich die Frage erst gar nicht, ob sie für die mit dem Erfolgsdenken einhergehende kulturelle Veränderung überhaupt bereit ist. Was sind denn die Folgen?

 

Das Problem ist, dass Menschen sich nur dadurch wertgeschätzt fühlen, dass sie nützlich für die christlichen Programme sind. Dann beginnen sie sich gebraucht zu fühlen und bedeutsam. Nach vielen Jahren verlassen deshalb oft gute Christen ihre Organisation, weil sie ausgebrannt und verletzt sind; sie erkennen, dass sie als billige Arbeitskräfte ausgenutzt wurden [3]. Hybels erklärte: „Wir haben einen Fehler gemacht. Wir hätten sie lehren sollen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.“ Doch das Ziel solcher Organisation war ja nicht die mündige Gemeinde, sondern die professionale missionarische Performance mit nachhaltiger Wirkung.

 

Es sind bereits Untersuchungen durchgeführt wurden, wie das unternehmerische Arbeitsklima und die damit einhergehende Corporate Identity die Gemeindekultur beeinflussen kann. In Übereinstimmung zu den Theorien von kulturellen Ausprägungen von Organisationen [4] wird eine Gemeinde demnach, die wie ein Dienstleistungsunternehmen geführt wird, früher oder später eine unternehmerische Marktkultur annehmen.

 

Glücklicherweise vermehren sich die Stimmen, die die Gefahr einer reinen Dienstleistungskultur sehen, wenn diese mehr und mehr das Denken und Handeln einer Gemeinde beeinflusst: Es kann nicht das Ziel sein, große Gemeinden ununterscheidbar von großen Unternehmen zu machen [5].

 

Die Familienkultur

Das Hauptmerkmal der Familienkultur ist das Interesse am Leben des anderen und die gegenseitige Fürsorge. Eine Gemeinde mit einer Familienkultur ist ein sehr freundlicher Ort, an dem die Menschen sich mitteilen und einiges von sich preisgeben. Sie vertrauen einander, schätzen und lieben sich. Wer ist mein Bruder und meine Schwester?, fragte Jesus einmal. Diese Gemeinde ist solch eine erweiterte Familie. Die Ausübung einiger Dienste hat in ihr eine lange Tradition, da sie auf Treue, Verbindlichkeit und Loyalität gegründet ist. Erfolg bedeutet, Hilfe anbieten zu können, wo immer sie benötigt wird. Echte Teamarbeit mit gegenseitiger Wertschätzung ist der natürlich Ausfluss dieser Familienkultur.

 

Die Entwicklung von familiären Umgangsformen benötigt in der Regel einige Zeit. Die offene Atmosphäre, in der die Bereitschaft besteht, sich mitzuteilen, entsteht aufgrund von Vertrauen und Freundschaften, die erst entwickelt werden müssen. Dann aber bietet diese Gemeinde ein echtes Zuhause.

 

Die Hierarchiekultur

Die Gefahr besteht in jeder Familienorientierten Gemeinde darin, dass sie sich irgendwann selbst genug ist. Sie muss sich deshalb auch gegenüber Leitern öffnen, die auf Gottes Stimme hören und die Gemeinde weiter führen können. Die Gemeinde braucht nicht nur diesen Input, sondern auch Vorbilder in ihrer Mitte für ihre weitere Entwicklung. Ein wenig Hierarchiekultur ist nicht schlecht. Sie verhilft der Gemeinde zu mehr Stabilität, und gelegentlich können bestimmte Leitplanken und Strukturen auch Sicherheit und mehr Zuverlässigkeit garantieren. Schließlich wird Gott auch ein „Gott der Ordnung“ genannt. Allerdings gibt es auch Gemeinden, die es mit einer übermäßigen Hierarchiekultur übertrieben haben, so dass sie es schließlich mit einer Friedhofsordnung zu tun hatten und Kontrolle wiederum das Leben erstickte. Wichtig ist deshalb die Belebung einer vierten Kulturform.

 

Die Adhokratiekultur

Der Begriff „Adhokratie“ steht für eine Organisationsform, die im Gegensatz zur Bürokratie steht. Sie ermutigt zur Partizipation und Open-Source Mentalität. Dies ist für eine junge Gemeinde ebenso wichtig wie für eine gereifte. Die kreativen Ideen können Ausdruck prophetischer Eindrücke sein, sie mögen aber auch ganz einfach der Kreativität der Gemeindeglieder entsprechen, mit der sie auf verschiedenste Art und Weise Gott ehren möchten. Die Gemeindeleitung ist hier besonders gefordert, sich durch den Heiligen Geist leiten zu lassen, so dass jeder seinen Platz findet aber zugleich Chaos und Durcheinander vermieden wird. Erfolg bedeutet für diese Kulturform, dass individuelle Begabungen und Berufungen in Freiheit gefördert werden und eine gegenseitige Wertschätzung dafür zum Ausdruck kommt. Wichtig ist dabei auch die Vernetzung mit anderen Gemeinden und der Austausch untereinander, so dass die Gemeinde vom gesamten fünffältigen Dienst und weiteren Gaben in der Stadt profitieren kann. Dies alles kann natürlich nur im Kontext und der Balance mit den anderen Kulturformen ablaufen.

 

Balance der vier Kulturformen

Jede Gemeinde ist dazu herausgefordert, die notwendige Balance unter den vier Kulturformen zu finden. Stehen mehr Flexibilität und Diskretion im Vordergrund oder eher Stabilität und Kontrolle? Wenn hier ein gesundes Mittelmaß gefunden wird, bleibt die Frage, ob die Gemeinde auch tatsächlich ihren Auftrag in dieser Gesellschaft wahrnimmt oder nur mit sich selbst beschäftigt ist. Überwiegt der interne oder externe Fokus?

 

 

Die nachfolgende Übersicht fasst diese Gedanken zusammen und beschreibt, wie wichtig es ist, auf eine gesunde Balance hinzuarbeiten. Dynamik und erkennbare Ausbreitung des Reiches Gottes ist ebenso wichtig wie der Zusammenhalt und die Festigung der Gemeindefamilie. Schließlich bestimmt die ausgewogene Kultur das Klima in einer Gemeinde.

 

 

 

Jenseits der Vernetzung von Gemeinden im Umfeld der Adhokratiekultur gibt es auch die Möglichkeit, dass Mitglieder verschiedener Gemeinden eine missionarisch ausgerichtete Organisation gründen. Wenn diese nicht den Anspruch darauf erhebt, selbst Gemeinde zu sein, kann sie eine fantastische Ergänzung sein, um professionelle Dienste anzubieten. Sie kann ein gemeinsames Zentrum für missionarische Arbeit bilden, Bibelschulprogramme und öffentliche Gottesdienste für Kirchendistanzierte Menschen anbieten.

 

Eine solche Arbeit hatte ich in den 90er Jahren in Schleswig-Holstein für 6 Gemeinden begonnen. Damals lag der Fokus zunächst auf der gemeinsamen Wochenendbibelschule, doch in dem Gedanken, die Programme zu erweitern, lag der besondere Reiz dieses Projektes. Niemand hatte je ein Problem damit, dass die Mitarbeiter und Manager dieser Organisation in ihrem Bestreben, hochwertige Programme anzubieten, eine Marktkultur vertraten. Durch die Anbindung an bestehende Gemeinden sah hier niemand eine Gefahr.

 

Es steht den Gemeinden vollkommen frei, bestimmte Arbeitsbereiche auszugliedern und zu vereinen. Ist diese Entscheidung einmal gefallen, geht es in einem nächsten Schritt darum, wie die angebotenen Dienste mit dem angestrebten Qualitätsniveau eingeführt werden können. Wenn gemeinsame Gottesdienste mit einer spezifischen Ausrichtung gefeiert werden, könnten die besten Sänger, Redner und Moderatoren eingestellt werden. Dieses missionarische Zentrum mag hierzu Stellenausschreibungen veröffentlichen, Prozesse entwickeln und ein Qualitätsmanagement einführen, um wirklich exzellente Programme aufzulegen. Auch viele überzeugte Hauskirchgänger möchten oft nicht die Atmosphäre des Glaubens und des Heiligen Geistes vermissen, die auf größeren Veranstaltungen vorzufinden ist. Menschen die dort zum Glauben finden, können dann ermutigt werden, sich in einer der unterstützenden Gemeinden zu integrieren. Das Ziel ist nicht, Konsumchristen zu entwickeln, sondern authentisches Christsein mit der ganzen Gemeindefamilie zu erleben.

 


Konsequenzen / nächste Schritte

  1. Die wohl größte Herausforderung für eine Gemeinde ist die Balance zwischen verschiedenen Kulturformen, die sie prägen können – der Familienkultur, der Hierarchiekultur und der Adhokratiekultur. Auch die Grundsätze der Marktkultur sind wichtig, damit die Gemeinde sich nicht selbst genug ist, sondern den missionarischen Auftrag nicht aus den Augen verliert. Dabei darf sie niemanden unter Druck bringen, denn viele Erfolge sind nicht immer messbar. Jesus sagte einmal: „Einer sät, und ein anderer erntet.“ (Joh 4,37)
  2. Besteht das Bedürfnis und die Begabung, professionelle Programme anzubieten, sollte eine Dienstleistungsorganisation ins Leben gerufen werden. Die Menschen sollten die Freiheit haben, Veranstaltungen einer Dienstleistungsorganisation dann zu besuchen, wenn ihnen danach ist. Darüberhinaus darf es nicht verboten sein, sich darin mehr und mehr einzubringen oder gar selbst Mitglied zu werden. Sie darf aber nicht als Gemeinde „verkauft“ werden.

  3. Was für die Gemeindefamilie nicht gilt, z.B. die Einführung von Gehaltslisten oder Bezahlung von Diensten, regelt die Dienstleistungsorganisation für sich selbst. Während vor allem die Überbetonung einer Marktkultur mit der Verfolgung von Erfolgskriterien für eine Gemeindefamilie schädlich ist, können für eine Missionsorganisation die üblichen wirtschaftlichen Zielverfolgungsmethoden durchaus nützlich sein. Ebenso ist nichts gegen ein Qualitätsmanagementsystem einzuwenden, um exzellente Programm nach dem Motte „für Gott nur das Beste“ zu realisieren.

  4. Die finanzielle Unterstützung einer Dienstleistungsorganisation sollte nicht die Sammlung in der Gemeinde ersetzen.

 

[1] ABROMEIT, Hans-Jürgen (2001) (Hg.). Spirituelles Gemeindemanagement. Göttingen, Germany: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 57

[2] CHAND, Samuel: Futuring, in: Leadership Tips on New Wineskins for a New Generatio. Spring –Summer 2009.…, S. 10

[3] PERRY, Mark (2005). Building Kingdom Churches. http://www.Xulonpress.com, S.85

[4] QUINN, Robert E.; CAMERON, Kim: Organisational life cycles and shifting criteria of effectiveness: Some preliminary evidence. In: Management Science. (1983) Jan, Vol. 29, No. 1, S. 33-51.

[5] THUMMA, Scott (1996). The Kingdom, the Power and the Glory: The Megachurch in Modern American Society. In: Sociology. Atlanta: Emory University, S. 27