Eine Gemeinde ist eine Familie und nicht in erste Linie eine Organisation. In ihr gibt es kein Nützlichkeitsdenken, das den Wert einer Person für eine Tätigkeit bestimmt. Das Kind ist genauso geliebt und wertgeschätzt wie die erfahrenen Leiter. Hier trägt einer die Last des Anderen, und die Leiter sind demütige Diener. Wettbewerb oder Vergleich der Charismen ist hier unerwünscht. In einer Gemeinde, die wie eine Familie funktioniert, gibt es in der Regel keinen Klerus, keine Angestellten, Gehälter oder erfolgsorientierte Jahresziele, die das Handeln bestimmen und messen lassen. – Wie ist es nun, wenn einige Gemeindeglieder zum Zweck der Evangelisation bestimmte Aktionen oder Programme ins Leben rufen möchten? Dann mögen sie dies tun, indem sie hierzu eine separate Organisation gründen und Mitarbeiter einstellen. Diese christliche Missionsorganisation sollte sogar mit den Methoden des Prozess-, Veränderungs- und Qualitätsmanagements kontinuierlich verbessert werden. Das Problem beginnt erst dann, wenn man den vielseitig interessierten Konsumenten der christlichen Programme suggeriert, diese finanziell aufwändige Dienstleistungsorganisation sei eine Gemeinde. Genau das ist sie nämlich nicht. Sie mag eine gute Ergänzung zu bestehenden Gemeinden sein, wenn sie von diesen getragen wird. Doch Mitarbeit, Besuch und finanzielle Unterstützung jener Veranstaltungen ist kein Zwang oder Ersatz für echtes Gemeindeleben. Wenn die Bibel davon spricht, dass wir unser Zusammenkommen nicht versäumen sollen, dann ist immer von Gemeinde die Rede.
„Deshalb ist es wichtig, unsere Zusammenkünfte nicht zu versäumen, wie es sich leider einige schon angewöhnt haben. Wir müssen uns doch gegenseitig ermutigen, und das umso mehr, je näher ihr den Tag heranrücken seht, an dem der Herr kommt.“ (Heb 10,25)
„So seid ihr also keine Fremden mehr, geduldete Ausländer, sondern ihr seid Mitbürger der Heiligen und gehört zur Familie Gottes.“
(Eph 2,19) – Apostel Paulus
Wie präsentiert sich heute die Gemeinde?
Die Gemeinde hat in unserer Zeit die verschiedensten Erscheinungsformen angenommen.
- Die meisten Gruppen beginnen als Hauskreise oder Hauskirchen (Pionierphase).
- Später gründen sie einen Verein und differenzieren in ihrer Satzung zwischen bestehenden Angeboten und ihrem speziellen Auftrag als Freikirche oder Zweigstelle einer bestehenden Kirche (Differenzierungsphase). Oft wird anfangs nur die Vision beschrieben.
- Als gewachsene Kirche wird schließlich mit den besten Absichten versucht, alle möglichen Dienste zu integrieren, so dass das Dienstangebot der Gemeinde ständig erweitert wird (Integrationsphase). Doch bevor die Mitglieder es richtig mitbekommen, ist aus der einst familienorientierten Gemeinde eine Dienstleistungsorganisation geworden, die das Bestreben hat, sich immer weiter zu professionalisieren. Die vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter reichen jetzt nicht mehr aus, es müssen Experten eingestellt werden, nicht nur zum Predigen, sondern auch für die Kinder- und Jugendarbeit, Musikarbeit, Verwaltung, usw. Hierzu werden immer mehr Finanzen benötigt.
- Es kommt die Frage auf: Wie machen es eigentlich die anderen Gemeinden? Viele vernetzten sich nun untereinander (Assoziationsphase), nicht nur um Ressourcen auszutauschen, sondern vielleicht auch, weil man spürt, dass hier irgendetwas nicht ganz stimmt.
In der Serie „Ich will meine Gemeinde bauen“ habe ich versucht, die Kriterien für eine gesunde und mündige Gemeinde wiederzugeben, so wie Jesus diese dazu befähigt, in ihrer geistlichen Reife zu wachsen. Darin ist die Rede von Einheit, der Erkenntnis des Sohnes Gottes und der Reife, die durch Christus gewirkt ist. Diese Art von Reife ist
aber nicht abhängig von einer Organisation. Beides sind zwei völlig unterschiedliche Bereiche. So wie Staat und Kirche zu trennen sind, müssen auch Gemeinde und Dienstleistungsorganisation voneinander unterschieden werden, obwohl
beides seine Berechtigung hat.
Ein Dienstleistungsunternehmen ergänzt eine Gemeinde
Jesus gründete zwar keine Organisation, doch er tat auch vieles andere nicht. Zum Beispiel baute er sich kein Haus und heiratete nicht. Trotzdem bauen wir heute Häuser und führen Ehen. Damit möchte ich sagen, dass es keine schlechte Sache ist, eine christliche Organisation zu gründen. Wenn man einen Auftrag verspürt, christliche Programme mit einem gewissen Niveau anzubieten, um anderen Menschen den Zugang zum christlichen Glauben zu erleichtern, dann ist das eine tolle Sache. Ich kann sehr gut verstehen, wenn eine Handvoll engagierter Christen auf freiwilliger Basis ein Abkommen treffen, einen bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens zusammenzulegen, um Mittel zur Förderung des Reiches Gottes zu haben. Und wenn dazu ein Verein oder eine Organisation hilfreich ist, dürfte daran zunächst einmal nichts verkehrt sein. Wenn sich in dieser Dienstleistungsorganisation die Programme und die Förderungen begabter Menschen im Fokus stehen, dann ist das sicher ein legitimer Fokus im Sinne der Organisationsvision. Schließlich gibt es ja genug zweitklassiges christliches Theater, zu dem man seine Arbeitskollegen nur schwer überreden kann.
Es ist jedoch verwirrend, wenn diese Organisation als Alternative für eine Gemeinde angepriesen wird oder sich gar „Gemeinde“ nennt. Eine Dienstleistungsorganisation, in der die Besucher Konsumenten der angebotenen Progammen sind, ersetzt für diese Menschen noch lange kein Gemeindeleben. Leider denken viele junge Christen, dass sie erst richtig und vollwertig zur Gemeinde Jesu dazugehören, wenn sie Mitglied in einer christlichen Organisation sind. Sie meinen, dass ihre Entscheidung erst dann glaubhaft ist, wenn sie üblicherweise 10% ihres Einkommens an dieses Unternehmen abführen und weitere finanzielle Opfer spenden, zum Beispiel für Bauprogramme oder sonstige
lobenswerte Projekte. Weil es hier große Verwirrung darüber gibt, was Gemeinde
wirklich ist und was Gott von uns NICHT zwingend erwartet, ist dringend Klärungsbedarf
und Differenzierung geboten. Der Unterschied zwischen der Gemeinde (ekklesia) mit ihrer Betonung auf Lehre, Gemeinschaft, Brot brechen und Gebet in den Häusern (Apg 2,42) und einer durchorganisierten christlichen Organisation, die die Gemeinschaft im Alltag mit Programmen und Diensten ergänzt, muss besser herausgearbeitet werden.
Vor einigen Jahren formulierte Bill Hybels, Pastor der Willow Creek Community, den folgenden nachdenklichen Satz: „Einige der Dinge, in die wir Millionen Dollars investiert haben, von denen wir annahmen, dass sie wirklich unseren Leuten helfen würden, zu wachsen und sich geistlich zu entwickeln, halfen den Menschen in Wahrheit gar nicht“ [Hartford, D., Bill Hybels, 2007]. Das war ein ehrliches Bekenntnis, das viele Leiter zum Nach- und Umdenken inspiriert hat. Da es in einer Gemeinde nicht um betriebswirtschaftliches Denken geht, ist Vorsicht geboten, wie Erfolg und Effektivität einer Gemeindearbeit zu bewerten ist. Eine christliche Gemeinschaft ist nicht eine Organisation, die numerische Indikatoren für die Anzahl ihrer Arbeitszweige, Teilnehmerzahlen oder des Spendenaufkommens benötigt. In einer christlichen Gemeinde ist vor allem darauf zu achten, dass diese aus Menschen besteht, die zu Jüngern gemacht werden und sich in Richtung geistlicher Reife entwickeln. Wenn dieser Fokus aus dem Blickfeld gerät, hat die Gemeinde ihre Aufgabe
verfehlt.
Wer passt sich wem an?
Die Rufe nach Anpassung und Veränderung der Gemeinde sind in den letzten Jahren immer lauter geworden. Man bekommt beinahe den Eindruck, dass die Existenz der Gemeinde in Gefahr ist, wenn nicht sofort rettende Programme entwickelt werden. Die Gemeinde, die in der heutigen Gesellschaft noch relevant bleiben möchte, so die Autoren eines Buches mit dem Titel „wake-up call“, müsse schneller und flexibler reagieren als frühe [Benke; Stevens; u.a., 2001]. Sie müsse besser jede einzelne Altersgruppe verstehen und entsprechende innovative Dienstangebote strukturieren. Außerdem sei ein Erfolgsprogram „purpose-oriented“ erforderlich, als wenn die Gemeinde Jesu kurz vor dem Untergang stünde! Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Doch viele Pastoren sind bereits auf diesen Zug gesprungen. Sie betrachten sich als leitenden Geschäftsführer (CEO) der Gemeinde, stehen einem vollzeitig beschäftigten Mitarbeiterstab vor und versuchen mit immer neuen Attraktionen und Dienstangeboten die Teilnahmequoten ihrer Programme zu verbessern.
Es stimmt, dass die Qualitätsbedürfnisse der Menschen sowie der potenziellen Gottesdienstbesucher ständig wachsen. Was in der Wirtschaft üblich ist, dass sich der Markt eine immer schnellere und häufigere Anpassung des Produktportfolios an sich ändernde Erwartungen wünscht, kann man in anderer Form auch im kirchlichen Umfeld beobachten. Doch dabei sind solche Sätze wie „Wer will, dass Kirche bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt“ [Warner, Kirche im 21. Jahrhundert, 1999], wenig hilfreich, wenn nicht klar differenziert wird, was in diesem Sinne „Kirche“ ist. Wenn Gemeindeleiter dazu aufgefordert werden, „ständig ihr Auge auf den Ball zu halten, um fortlaufend ihre Gemeindevision neu zu formulieren und ihrer Ortsgemeinde beizubringen“ [ebd.], dann wird deutlich, dass hier erneut die Gemeinde mit einer Dienstleistungsorganisation verwechselt wurde.
Die Vision für die Gemeinde, die Jesus sich baut, ist vielmehr fixiert und unverrückbar. Sie ist klar definiert und vom Apostel Paulus in Eph 4, 11-13 beschrieben. Natürlich, dass nichts beständiger ist als der Wandel, stellte schon Heraklit 500 v.Chr. fest. Und solange sich dieser Wandel auf das Dienstleistungsangebot einer christlichen Organisation beschränkt, stimme ich dem auch zu. Doch wie beruhigend ist dagegen die Tatsache, dass sich die Methoden der christlichen Gemeinde über Jahrtausende bewährt haben. Sie bestehen in der Gemeinschaft incl. Liebemahl, durch die Wortverkündigung und dem gemeinsamen Gebet. Es ist die Liebe Gottes selbst, die diese Versammlungen einfach konkurrenzlos macht. Sie ist der eigentliche Publikumsmagnet, der die Besucher nicht länger Zuschauer oder Konsumenten sein lässt, sondern geliebte und wertgeschätzte Mitglieder der Familie Gottes.
Kommentar schreiben